Welche „Digitalen“ Kompetenzen benötigen wir in Zukunft? Ein Fallbeispiel mit generischem Wert

In mehreren Beiträgen habe ich bereits die Dynamiken der Digitalen Transformation beschrieben (vgl. Krapf 2017; Krapf 2016a). In einem spezifischen Beitrag habe ich zudem erörtert, wie wichtig elaborierte (Handlungs-) Kompetenzen und deren systemische Sicherstellung im neuen Zeitalter der Automatisierung werden. In einem Zeitalter, in dem Maschinen nicht nur unsere Muskelkraft ersetzen, sondern durch „Machine Learning“ und „Artifical Intelligence“ auch zunehmend unsere Wissensarbeit übernehmen. Damit wir als Menschen in einer zukünftig automatisierten Welt einen (ökonomischen) Mehrwert generieren können, müssen wir also ergänzende Kompetenzen zu unseren maschinellen Mitarbeitenden besitzen. Daraus lässt sich dann rasch die Frage ableiten, welche „Digitalen“ Kompetenzen wir uns dazu konkret aneignen müssen.

Bei der Schweizerischen Post wollten wir genau dies herausfinden. Wir wollten wissen, welche „Digitalen“ Kompetenzen für unsere Mitarbeitenden in Zukunft wichtig sind. Dazu mussten wir aber zuerst definieren, was wir unter „Digitalen“ Kompetenzen verstehen. Denn ein Blick in die Literatur zeigt, dass die Reichweite unterschiedlich gefasst wird. Während sich einige Modelle eher auf den Umgang mit digitalen Tools beziehen und dabei vor allem den Begriff der Medienkompetenz etwas weiter fassen (vgl. bspw. Ferrari/Punie/Brečko 2013; Meier 2016), umfassen andere Modelle „Digitale“ Kompetenzen so weit, dass damit eigentlich „Zukunftskompetenzen“ oder „Kompetenzen in einer digitalen Welt“ gemeint sind (Mozilla 2016; World Economic Forum 2016). In unserer Arbeitsgruppe bestehend aus Fachspezialisten aus unterschiedlichen Geschäftsbereichen der Personal- und Organisationsentwicklung war schnell klar, dass wir für die empirische Analyse beide Verständnisse aufgreifen und überprüfen müssen.

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Abbildung 1: Digitale Kompetenzen als Anforderung durch die Digitale Transformation
(eigene Darstellung in Anlehnung an Krapf 2016b; Krapf 2017)

Modelle zu Digitale Kompetenzen: Eines für „Digitale Tools“, das andere für die „Digitale Welt“

Beim Umgang mit „Digitalen Tools“ haben wir uns für das Modell von Meier (2016) entschieden, das u.a. auf Basis von Ferrari (2012) bzw. Ferrari/Punie/Brečko (2013) entstanden ist und deshalb bereits viele (theoretische) Erkenntnisse aufnimmt (Daepp 2017, S. 14). Meier (2016) unterscheidet dabei fünf Kompetenzbereiche (mit digitalen Informationen umgehen; Wirkungsvoll digital kommunizieren; digitale Inhalte erstellen; Sicherheit gewährleisten; technische Probleme lösen), die für unsere Praxisanalyse grundsätzlich übernommen wurden, wobei wir die einzelnen dazugehörigen Kompetenzbeschreibungen auf unsere Kontext adaptierten (vgl. unten).

Für die Kompetenzanforderungen in einer „Digitalen Welt“ haben wir uns am WEF-Modell (2016) orientiert. Das WEF hat bereits vor rund zwei Jahren ein Modell für die „21st-Century Skills“ entwickelt, welches sie in drei Dimensionen mit unterschiedlichen Kompetenzbereiche aufgefächert hat. In der ersten Dimension verortet das WEF die „Foundational Literacies“. In der zweiten „Competencies“ und in der dritten „Character Qualities“ (ebd.). Für die empirische Überprüfung bei der Post haben wir uns bei den letzten beiden Dimensionen bedient, um den Fokus auf die „Schlüsselkompetenzen“ und die „Persönlichkeitseigenschaften“ zu legen. Die „Foundational Literacies“ haben wir nicht zuletzt deshalb weggelassen, weil wir diese mit dem Modell von Meier (2016) spezifischer und für unseren Kontext besser abgedeckt sahen. In den beiden anderen Dimensionen sind wir grundsätzlich dem Ursprungsmodell gefolgt, haben allerdings noch zusätzliche Kompetenzen aus der Literatur ergänzt (vgl. unten).

Empirische Überprüfung: Welche Kompetenzen sind aus Sicht der MA wichtig?
Die aus der Literatur entnommenen und durch die Arbeitsgruppe aus PE/OE-Spezialisten auf den Postkontext adaptierten Modelle wollten wir nun in der Organisation überprüfen. Im Raum stand primär die Frage, welche Aspekte dieser Modelle aus Sicht unserer Mitarbeitenden relevant ist. Dazu haben wir über 3‘000 Postmitarbeitende befragt. Die untenstehenden Tabellen zeigen die Resultate zu den Kompetenzen im Umgang mit „Digitalen Tools“ bzw. für die „Digitalen Welt“

Kompetenzen „Digitale Tools“ (in Anlehnung an Meier 2016)

abb2*1=überflüssig; 6=unverzichtbar

Abbildung 2: Kompetenzen im Umgang mit „Digitalen Tools“
(in Anlehnung an Meier 2016)

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*1=überflüssig; 6=unverzichtbar

Abbildung 3: Kompetenzanforderungen in einer „Digitalen Welt“
(in Anlehnung an WEF 2016)

Interpretation der empirischen Überprüfung und Anpassung des Modells

Die Befragungen haben gezeigt, dass den untersuchten Kompetenzen eine hohe Wichtigkeit für die Post im Rahmen der Digitalen Transformation zukommt. Dabei scheint sich die Unterscheidung von Kompetenzen im Umgang mit „Digitalen Tools“  und den Kompetenzen in einer „Digitalen Welt“ zu bewähren. Denn in der Dimension „Digitale Tools“ variierte die Beurteilung der MA deutlich stärker nach Funktion und/oder Bereich als in der Dimension „Digitale Welt“. Dies ist im Nachhinein auch nicht sonderlich überraschend, da die „Digitalen Tools“ und deren Bedeutung stark von Funktion und Geschäftsbereich geprägt sind, während die eher diffuse „Digitale Welt“ und deren generischen Kompetenzanforderung (noch) etwas unabhängiger vom spezifischen Kontext sind. Die Kombination von Kompetenzanforderungen bezüglich „Digitalen Tools“ und „Digitale Welt“ wurde in der Zwischenzeit auch von anderen Autoren vorgenommen (vgl. bspw. Seufert 2017) und bestätigte uns, dass die Berücksichtigung beider Aspekte bzw. Verständnisse relevant ist.

Aufgrund der Erkenntnisse durch die Befragungen haben wir uns entschieden, das Modell anzupassen und graphisch umzustellen (vgl. unten). Hierzu haben wir als äusseren Rahmen die Kompetenzanforderungen aus der «Digitalen Welt» definiert, da diese bereichs- und funktionsübergreifend relevant scheinen und so als generelle Orientierung dienen können. Kompetenzen an bzw. mit «Digitalen Tools» hingegen müssen abhängig von Bereich und Funktion spezifisch entwickelt werden. Deshalb wurden diese Kompetenzanforderungen in den inneren Kreis gesetzt, ohne sie konkret auszuformulieren. Das Pfeilsymbol um den inneren Kreis der „Digitalen Tools“ soll darauf hindeuten, dass sich die Kompetenzen im Umgang mit solchen Instrumenten ständig verändern und diese deshalb auch weniger konstant sind als die generischen Kompetenzen in der «Digitalen Welt».

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Abbildung 4: „Digitale Kompetenzen“ – ein generisches Kompetenzmodell
(Krapf & Daepp 2017 zit. in. Daepp 2017, S. 47)


Fazit: Wir wissen wohin, aber noch nicht wie

Als Fazit bzw. eher als Zwischenfazit kann damit festgehalten werden, dass wir nun wissen, welche Kompetenzen entwickelt werden müssen. Die schwierigere Frage ist aber, wie diese Kompetenzen entwickelt werden können. An dieser Frage arbeiten wir zurzeit und neue Erkenntnisse bzw. Erfahrungsberichte werde ich gerne an dieser Stelle veröffentlichen. In der Zwischenzeit empfiehlt sich die Lektüre von  Daepp (2017), welche die Überprüfung der Digitalen Kompetenzen für den Postkontext wissenschaftlich begleitet hat und dabei aus der Ferne drei Handlungsempfehlungen für die Weiterarbeit  vorgibt: (1) „Bewusst reflektieren, was aus den Ergebnissen gelernt werden kann“, um empirisch gestützte Massnahmen zu entwickeln (S. 48); (2) Quick-Wins durch das Nutzen von bestehenden Schulungen im Umgang mit „Digitalen Tools“; (3) Verknüpfung von (technischen) Schulungen mit der Entwicklung der eruierten erstrebenswerten Persönlichkeitseigenschaften.

 

Literatur

Daepp, U. (2017): SkillChange Digitale Transformation. Welche (neuen) Kompetenzen benötigen die Mitarbeitenden der Schweizerischen Post im Zuge der Digitalen Transformation. unveröffentlichte Bachelorarbeit: Universität St.Gallen.

Ferrari, A. (2012): Digital Competence in Practice: An Analysis of Frameworks. JRC Technical Reports. Luxembourg: Publications Office of the European Union.

Ferrari, A./Punie, Y./Brečko, B. N. (2013): DIGCOMP: A framework for developing and understanding digital competence in Europe. JRC scientific and policy reports. Luxembourg: Publications Office.

Krapf, J. (2016a): Agilitätskultur zur Bewältigung der Digitalen Transformation. https://joel-krapf.com/2016/06/21/agilitaetskultur-zur-bewaeltigung-der-digitalen-transformation/. 30. Juni 2016.

Krapf, J. (2016b): Generatives Kompetenzmanagement zur Digitalen Transformation. https://pt.slideshare.net/JolKrapf/generatives-kompetenzmanagement-zur-digitalen-transformation-62952121. 6. April 2017.

Krapf, J. (2017): Agilität als Antwort auf die Digitale Transformation. In: Synergie – Fachmagazin für Digitalisierung in der Lehre, H. 3, S. 36–37.

Meier, C. (2016): Digitale Transformation und L&D. Beitrag zum ZGP Symposium am 02.11.2016 in Zürich. https://www.scilblog.ch/blog/2016/11/10/digitale-transformation-und-ld-beitrag-zum-zgp-symposium-am-02-11-2016-in-zuerich/. 24. Juni 2017.

Mozilla (2016): Web Literacy 2.0. http://mozilla.github.io/content/web-lit-whitepaper/#21st-century-skills. 29. April 2016.

Seufert, S. (2017): Digitale Kompetenzen. Erste Ergebnisse im Projekt „DigiCompToTeach“. https://www.scil-blog.ch/blog/2017/06/22/digitale-kompetenzen-erste-ergebnisse-im-projekt-digicomptoteach/. 24. Juni 2017.

World Economic Forum (2016): New Vision for Education: Fostering Social and Emotional Learning through Technology. Genf: WEF.

14 Kommentare zu „Welche „Digitalen“ Kompetenzen benötigen wir in Zukunft? Ein Fallbeispiel mit generischem Wert

  1. Danke für den strukturierten und informativen Beitrag und die Ergänzungen, um die operativen Empfehlungen aus der begleitenden Arbeit von Frau Daepp! (Diese Arbeit klingt spannend!) Bin auch gerade in diesem Thema unterwegs und teste das „Runterbrechen“ und „Konkretisieren“ in Quick wins durch die Führungskräfte. Da hilft Ihre Unterscheidung in Tools und Kompetenzen, wie sie in dem Artikel dargestellt werden, nochmal sehr.
    Ich glaube, der Weg zur Entwicklung der grundlegenden Kompetenzen geht heute noch häufig über das Erreichen von Handlungssicherheit in den Tools. Das schafft Erfolgserlebnisse und verändert eine oftmals zurückhaltende Haltung. Und da können Führungskräfte in ihrer Rolle als erster Personalentwickler schon zu viel konkretem Tun ermutigen!

  2. Interessanter Artikel.

    Allerdings sind alle Kompetenzen in der Grafik „Digitale Tools“ aus meiner Sicht wichtige Kompetenzen, die primär mit digitalen Tools nicht zu tun haben.

    Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es vielen Menschen sehr schwer fällt bspw. mit Digital Collaboration Tools und asynchronem Arbeiten umzugehen. Erstaunlicherweise nutzen diese Menschen Whatsapp und Facebook ohne Probleme.
    Es gibt also kein generelles Problem mit dem Umgang mit digitalen Tools, sondern das Problem beginnt, wenn die digitalen Tools in die Fläche und Breite gehen und mehrere Tools auf mehreren Ebenen bedient werden müssen.

    Aus meiner Sicht ist ein Kanban Board das übersichtlichste Tool, um zahlreiche Aufgaben übersichtlich und plausibel darzustellen. Meine Beobachtungen zeigen, dass sobald die Aufgaben (die bspw im Meeting alle grob besprochen wurden) komplett irgendwo aufgelistet sind, bei vielen eine Art kognitiver Overload entsteht.
    Also der Prozess digital Klarheit und Übersichtlichkeit zu erzeugen, mündet in digital erzeugte Überforderung. Das ist eine Art digitales Paradoxon.

    Ein Kunde von mir hat Teams prinzipiell verstanden, aber sein Kosmos ist (wie wie bei vielen anderen auch) Outlook. E-Mails bietet vielen Menschen Sicherheit, weil der Prozess verstanden und gelernt wurde. Und eine E-Mail hat ein analoges Pendent, den Brief bzw. das Fax.
    Das E-Mails weder ein Projekt abbilden noch Aufgaben übersichtlich für alle darstellen kann, scheint die meisten nicht zu stören.

    Ich habe Kanäle angelegt und Aufgaben im Planner erstellt, um die „Flut“ an Aufgaben zu organisieren, aber wenn es über den Chat in Teams hinausgeht und der Planner mit Kanban Buckets ins Spiel kommt wird bei vielen die Luft extrem dünn. Besagter Kunde hat Teams von dem Moment an ignoriert. Weil er wusste, dass dort viele Aufgaben warten. Das ist psychologisch gesehen auch eine Art Flucht vor Klarheit (die nichts mit der Technologie zu hat).

    Zur Erklärung von Collaboration Tools verwende ich oft Metahpern wie die Einbauküche oder eine Werkstatt, um zu verdeutlichen, dass diese Räume nur dann von mehreren genutzt werden können, wenn man sich auf eine Ordnung einigt. Natürlich versteht jeder diese Bilder, aber die Umsetzung in die Arbeit mit digitalen Tools fällt vielen trotzdem schwer.
    Es sieht in der Beobachtung so aus als würde es einfach gewisse synaptische Verbindungen nicht geben, die man für das prinzipielle Verständnis einfach benötigt. Plus einer gewissen prinzipiellen Denkgeschwindigkeit, also die Taktung. Mich schrecken 30 oder 50 Aufgaben in einem Board nicht ab, für andere ist es der Super Gau.

    Mein ehemliger Mitarbeiter hat einen Job in einem Konzern und arbeitet drei Stunden am Tag, da er in diesen drei Stunden schon mehr leistet als der Rest der Abteilung. Digital Native meets Digital Immigrants.
    Natürlich arbeiten seine Kollegen auch alle im SAP System, aber er macht es eben drei mal schneller.

    Ich bin mittlerweile leider davon überzeugt, dass eine gewisse methodische digitale Kompetenz und kognitive Geschwindigkeit einfach nicht jeder erwerben kann. Genauso wie es Menschen gibt, die mit Zahlen, Buchstaben oder Reden nicht so gut zu Recht kommen.
    Zwischen dem WorkOS und den Prozessen eines erfolgreichen Startups und eines „durchschnittlichen“ Mittelständlers liegen Lichtjahre. Sowohl in der Kultur als auch der digitalen Performance. Ein klassischer Generation GAP.

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