Die Digitale Transformation hat Staub aufgewirbelt. So viel Staub, dass uns alt bekannte Erkenntnisse wieder neu erscheinen. So kommt es, dass kaum ein Text zur Digitalen Transformation nicht mit dem Hinweis beginnt, dass die Dynamik der Umwelt, der Wettbewerbs- bzw. Innovationsdruck oder auch die Unsicherheit und Ambiguität kontinuierlich zunehmen. Das ist nicht falsch und die Erkenntnis ist für Unternehmen auch äusserst zentral, doch es ist alles andere als neu. Management-Guru Michael Porter hat bereits in den frühen 90er Jahren darauf hingewiesen, dass durch das Informations-zeitalter und die technologische Entwicklung die Dynamik erheblich zunehmen wird (Nonaka/Takeuchi 1997). Und bereits vor Porter haben nicht minder kluge, jedoch wohl etwas weniger bekannte Köpfe den Wandel als Dauerzustand beschrieben (vgl. bspw. Guglielmino/Guglielmino/Long 1987, S. 303). Wird der Einfluss der Digitalen Transformation isoliert und rein theoretisch betrachtet, dann ist es nachvollziehbar, die Zunahme der Veränderungsdynamik als etwas Neues hervorzuheben – schliesslich ist es argumentativ schlüssig, aufgrund der mit der Digitalisierung einhergehenden Verkürzung der Produktlebenszyklen bzw. Verstärkung der Vernetzung von einer steigenden Intensität auszugehen. Im Gesamtkontext der komplexen Praxis scheint es allerdings etwas plakativ, nach über einem Vierteljahrhundert weiterhin unermüdlich von einer wachsenden Veränderungsgeschwindigkeit zu schreiben, die weder messbar noch quantifizierbar ist. Abgesehen davon, dass eine solche Geschwindigkeitszunahme einmal an einem – wenn auch nur theoretisch fassbaren – Punkt kulminieren muss, scheint der praktische Nutzen für Unternehmen sehr gering, wenn auch die nächsten 25 Jahre eine steigende Veränderungsintensität proklamiert wird, ohne wirklich neue Ansätze vorzustellen, wie dieses Umfeld bewältigt werden kann.
Es scheint daher zielführender, die Dynamik spätestens nun im Zuge der Digitalen Transformation als Konstante, also als Dauerzustand zu verstehen. Dadurch verliert die Zunahme der Veränderungsgeschwindigkeit ihr Alamierungspotenzial, weil Wandel als grundsätzliche Rahmenbedingung behandelt wird. In der Praxis verbreitet sich diese Perspektive zunehmend, indem sich Unternehmen der Agilität verschreiben (Bazigos/De Smet/Gagnon 2015). Generelles Ziel ist dabei die Sicherstellung einer Organisation, die flexibel und proaktiv mit dem exogenen und endogenen Veränderungsdruck umgeht. Während die Steuerung von Organisationen aufgrund ihrer systemisch bedingten Komplexität ohnehin bereits überaus anspruchsvoll ist, erschwert sich die Entwicklung zu so einer agilen Organisation umso mehr, weil Agilität oftmals fragmentiert beleuchtet und dadurch auch nicht ganzheitlich behandelt wird. So gibt es Autoren aus der Softwareentwicklung, die mit Agilität vor allem die Teamzusammenarbeit oder die Produktentwicklung verstehen und dadurch u.a. in „Scrum“ den zentralen Lösungsansatz finden (vgl. bspw. Jenewein 2016). Andere Autoren fokussieren sich wiederum eher auf organisationale Prozesse (bspw. Häusling 2015, S. 5) oder auf eine flexible Strukturgestaltung (bspw. Aghina/De Smet/Weerda 2015).
Agilitätskultur als Fundament zur agilen Organisation
Diese unterschiedlichen Perspektiven sind alle richtig und wertvoll, doch sie setzen sich kaum mit der Tiefenstruktur einer agilen Organisation auseinander. Diese ist wiederum elementar, damit sowohl die einzelnen Organisationsmitglieder als auch das Gesamtsystem gewillt sind, die Agilität als neue organisationale Rationalität zu verstehen. In anderen Worten benötigen sowohl die Individuen als auch die Organisation als Ganzes ein agiles „Mindset“ (Moran 2015, S. 209). Verstehen wir nun eine Organisationskultur dahingehend, dass „mentale Modelle“ (Senge 1994) oder „unhinterfragte Selbstverständlichkeiten“ (Schein 1997) organisational geteilt werden, dann wird evident, dass die Entwicklung eines agilen Mindsets nichts anderes als eine Verankerung bzw. Kollektivierung in der Organisationskultur bedeutet. Die Etablierung einer solchen „Agilitätskultur“ als Tiefenstruktur wird so zum Fundament einer agilen Organisation, die in der Oberflächenstruktur entsprechende Teamprozesse, Strukturen und Produkt-entwicklungen erst ermöglicht.
Agilitätskultur darf jedoch nicht insofern (miss-)verstanden werden, dass es (nur) eine kulturelle Ausprägung für agile Organisationen gibt. Wie Weh und Meifert (2010) prägnant aufzeigen, ist eine Organisationskultur einerseits derart mannigfaltig, so dass die Agilität lediglich einen Aspekt eines Konglomerats an „Theories-in-Use“ (Argyris 2009) darstellen kann[1]. Andererseits ist insbesondere bei grösseren Unternehmen die Organisationskultur zu heterogen, als dass von einer monolithischen Kultur für das Gesamtsystem gesprochen werden kann. Die Entwicklung einer Agilitätskultur zur Gestaltung einer agilen Organisation bedeutet deshalb nicht, dass die gesamte Organisationskultur verändert werden soll. Vielmehr soll die bestehende Kultur insofern ergänzt werden, als dass Agilität zur „unhinterfragter Selbstverständlichkeit“ (Schein 1997) bzw. zur „Theory-in-Use“ (Argyris 2009) wird.
Institutionalisierung des permanenten Hinterfragens
Die Erkenntnis, dass die Gestaltung einer agilen Organisation die Kulturentwicklung in den Fokus rückt, ist allerdings nur ein erster Schritt. Ein wichtiger zwar, weil er verstehen hilft, dass andere – notwendige – Massnahmen ohne eine Agilitätskultur ins Leere laufen. Jedoch ist damit noch nichts in die Praxis umgesetzt. Die Herausforderung bei der anschliessenden Umsetzung ist jedoch, dass die kulturelle Gestaltung an den existierenden Organisationskontext anknüpfen muss. Es scheint deshalb wenig hilfreich, willkürlich gesammelte und für allgemeingültig erklärte Gestaltungsprinzipien der Agilität als Veränderungsziel auszurufen. Der zweite Schritt nach der grundsätzlichen Orientierung an der Kulturentwicklung muss ein kleinerer sein. Ein Schritt, der die Umsetzung etwas klarer erscheinen lässt, ohne notwendige und kontextspezifische Zwischenschritte zu überspringen. Dieser zweite Schritt kann darin gesehen werden, die Kulturentwicklung als generelles Vorhaben und die Agilitätskultur als abstraktes Konstrukt besser zu verstehen.
Ausgehend vom festgelegten Kulturverständnis, das im Wesentlichen aus den „unhinterfragten Selbstverständlichkeiten“ (Schein 1997) besteht, bedeutet Kulturentwicklung die Veränderung dieser institutionalisierten „mentalen Modelle“ (Senge 1994). Die Hinterfragung dieser bestehenden und von den Organisationsmitgliedern geteilten „Mindsets“ (Moran 2015) geschieht durch ein sogenanntes „Double-Loop Learning“, bei dem sowohl auf individueller als auch auf organisationaler Ebene „Theories-in-Use“ überprüft und gegebenenfalls angepasst werden (Argyris 2009). Für die Entwicklung der Agilitätskultur bedeutet dies, dass jene „Theories-in-Use“, die eine agile Organisation behindern, aufgelöst werden, während Selbstverständlichkeiten, die eine solche Organisation befördern, eingeführt bzw. gestärkt werden. Da Agilität bedingt, dass sich Organisationsmitglieder und Gesamtsystem stets von neuem anpassen können, muss bei der Agilitätskultur dieses Hinterfragen von hinderlichen Organisationsroutinen institutionalisiert werden.
Dieses Verständnis von Agilitätskultur offenbart damit einen scheinbaren Widerspruch zum generischen Kulturbegriff. So wurde Kultur als jene unhinterfragten Selbstverständlichkeiten verstanden, die von den Organisationsmitgliedern geteilt werden (Schein 1997). Die Agilitätskultur konstituiert sich demgegenüber nun gerade darin, dass die unhinterfragten Selbstverständlichkeiten permanent hinterfragt werden, um diese nötigenfalls an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Was auf den ersten Blick wie ein Paradoxon erscheint, lässt sich insofern auflösen, als dass Agilitätskultur auf einer Meta-Ebene verstanden wird. Dadurch wird die Organisationskultur als etwas Spezifisches und Einmaliges belassen, während die Agilitätskultur darauf hinweist, dass eine agile Organisation unabhängig ihrer kulturellen Spezifika das permanente Hinterfragen des Status Quo institutionalisiert. Dies ist zwar weiterhin sehr abstrakt, stellt jedoch gerade deshalb für alle Organisationen einen anschlussfähigen Mosaikstein auf dem weiten Weg zur Umsetzung der Agilität dar.
Abschliessendes Zwischenfazit und Ausblick
Bis hierhin konnte aufgezeigt werden, dass eine agile Organisation fundamental davon abhängt, ob Agilität als „mentales Modell“ und damit als „unhinterfragte Selbst-verständlichkeit“ von den Organisationsmitgliedern geteilt wird. Dieser erste Schritt, der die Kulturentwicklung in den Fokus rückt, konnte in einem zweiten Schritt dahingehend weiterentwickelt werden, als dass nicht die Gesamtorganisation in seinen Grundfesten verändert werden muss. Einerseits wäre dies zu umfangreich und deshalb weder zweck-mässig noch machbar. Andererseits ist eine Organisationskultur – zumindest in grösseren Unternehmen – so heterogen, dass ohnehin keine monolithische Kultur realistisch ist. Als zielführender erscheint deshalb, die Agilitätskultur als Meta-Ebene zu verstehen. Dadurch besteht das verbindende Element von agilen Organisationen insbesondere darin, dass die institutionalisierten Organisationsroutinen und Wirklichkeitskonstruktionen permanent hinterfragt werden.
Um nun weitere und insbesondere auch konkretere Schritte zur Umsetzung zu gehen, müssen zwar bald einmal auch die zu Beginn besprochenen Oberflächenstrukturen der Agilität konkret berücksichtigt und gestaltet werden. Aufgrund deren Komplexität und Kontextabhängigkeit ist eine Annäherung in diesem Konkretisierungsgrade lediglich einzelfallbezogen möglich. Als weiterer Zwischenschritt sowie als generische Orientierungshilfe sollte jedoch die Fragestellung dienen, wie ein permanentes Hinterfragen der „Theories-in-Use“ institutionalisiert werden kann. Argyris und Schön geben hierzu einen ersten Hinweis, indem sie im „Deutero-Lernen“ die organisationale Fähigkeit sehen, die „Lernprozesse auf einer Meta-Ebene zu reflektieren“ (Seufert 2013, S. 58). Es könnte sich deshalb als ergiebig erweisen, dieses bereits bekannte Konzept vor dem Hintergrund der Agilität bzw. der Agilitätskultur von neuem zu beleuchten und zu konkretisieren.
Literatur
Aghina, W./De Smet, A./Weerda, K. (2015): Agility: It rhymes with stability. http://www.mckinsey.com/business-functions/organization/our-insights/agility-it-rhymes-with-stability. 28. Mai 2016.
Argyris, C. (22009): On organizational learning. Malden, Mass: Blackwell.
Bazigos, M./De Smet, A./Gagnon, C. (2015): Why agility pays. http://www.mckinsey.com/business-functions/organization/our-insights/why-agility-pays. 28. Mai 2016.
Guglielmino, P. J./Guglielmino, L. M./Long, H. B. (1987): Self-Directed Learning Readiness and Performance in the Workplace: Implications for Business, Industry, and Higher Education. In: Higher Education 16, H. 3, S. 303–317.
Häusling, A. (2015): Agiles Change Management. http://hr-pioneers.com/2013/10/ebook-agiles-change-management/. 28. Mail 2016.
Jenewein, T. (2016): Digital Leadership bei SAP. Konsequenzen der Digitalen (R)Evolution für das Unternehmen und die Führungskräfte. http://scn.sap.com/community/german/education-dach/blog/2016/03/03/digital-leadership-bei-sap-konsequenzen-der-digitalen-revolution-f%C3%BCr-das-unternehmen-und-die-f%C3%BChrungskr%C3%A4fte? 31. März 2016.
Moran, A. (2015): Managing Agile. Strategy, Implementation, Organisation and People. Cham: Springer International Publishing.
Nonaka, I./Takeuchi, H. (1997): Die Organisation des Wissens. Wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen. Frankfurt/Main: Campus.
Schein, E. H. (21997): Organizational culture and leadership. San Francisco: Jossey-Bass.
Senge, P. M. (11994): The Fifth Discipline. The Art & Practice of the Learning Organization. New York, NY: Currency Doubleday.
Seufert, S. (2013): Bildungsmanagement. Einführung für Studium und Praxis. Stuttgart: Schäffer-Poeschel.
Weh, S.-M./Meifert, M. T. (22010): Kulturmanagement. In: Meifert, M. T. (Hrsg.): Strategische Personalentwicklung. Ein Programm in acht Etappen. s.l.: Springer-Verlag, S. 315–332.
[1] Argyris (2009) grenzt „Theories-in-Use“ von „Espoused Theories“ ab, indem erstgenannte Theorien jene sind, die von den Organisationsmitgliedern tatsächlich, wenn auch unbewusst verfolgt werden. „Espoused Theories“ sind demgegenüber Verhaltensgrundsätze, die von den Individuen zwar artikuliert, jedoch nicht zwingend umgesetzt werden. Gemäss Schein (1997) können diese „Theories-in-Use“ den unhinterfragten Selbstverständlichkeiten gleichgesetzt werden, die wiederum als Kern einer Organisationskultur zu verstehen sind.
5 Kommentare zu „Agilitätskultur zur Bewältigung der Digitalen Transformation“