Ein Referenzmodell zur organisationsweiten Agilität

Vor ungefähr zwei Jahren habe ich ein Modell entwickelt, um Agilität ganzheitlich zu betrachten (Krapf 2017). Dabei habe ich verschiedene Strömungen und Theorien zusammen gefasst, die zum Thema Agilität oft (zu) fragmentiert betrachtet worden sind. Das Ziel des Modells war es, einen Überblick zu geben, was Agilität alles umfasst. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil damals Agilität noch stark auf Scrum reduziert wurde.

Vom agilen Team zur agilen Organisation

In der Zwischenzeit haben sich in vielen Organisationen agile Teams und Scrum Projekte durchgesetzt. Zudem wurden auch organisationale Konzepte immer bekannter. Für viele Praktiker drängt sich nach den ersten Erfahrungen zunehmend die Frage auf, wie agile Teams zu einer agilen Organisation skaliert werden können. Um diese Frage zu beantworten, habe ich mein Modell mit den drei Gesetzen der Agilität von Denning (2018) ergänzt. Denn diese haben sich auch in meinen Forschungen und Projekten als die drei essentiellen Ingredienzen herausgestellt, damit sich Unternehmen hin zu einer agilen Organisation bewegen können.

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Referenzmodell zur organisationalen Agilität (in Anlehnung an Krapf, 2017)

Das Gesetz des Kunden

Der heutige Markt ist komplex und global. Durch die digitale Transformation verändern sich (technische) Möglichkeiten und Kundenbedürfnisse rasant. Gleichzeitig ist die Interaktion zwischen Organisationen und Kunden durch soziale Medien und C2C Plattformen (bspw. Uber, AirBnB, Amazon) so schnell und intensiv wie wohl nie zuvor. Es ist deshalb kaum überraschend, dass sich in den letzten Jahren die Macht vom Produzenten zum Kunden verschoben hat. Ein elementares Kriterium für agile Organisationen ist es deshalb, den Kunden ins Zentrum ihrer Aktivitäten zu stellen. Nur wer die dynamischen Kundenbedürfnisse immer wieder aufs Neue befriedigen kann, wird nachhaltig überlegen. Damit wird das Jahrzehnte alte Doktrin von Milton Friedman abgelöst. Nicht mehr die Maximierung des Shareholder Value steht im Zentrum, sondern der Kunde. Oder wie es bereits Drucker, der seiner Zeit stets etwas voraus war, in den 1950er Jahren sagte: der Zweck eines Unternehmens ist die Schaffung von Kunden.

Das Gesetz des kleinen Teams

Unternehmen, die in diesem Umfeld überleben wollen, müssen also rasch und effektiv auf veränderte Kundenbedürfnisse eingehen können. Dies gelingt am besten, wenn ein kleines, selbstorganisiertes Team für ein Produkt oder ein spezifisches Kundenerlebnis verantwortlich ist. So kann das Team ohne Bürokratie und mit einer end-to-end Perspektive sein Wirken voll auf den Kunden richten. Methoden wie Scrum oder die Design Thinking helfen unter anderem dabei, dass selbstorganisiert nicht chaotisch meint. Denn im Gegensatz zur noch weit verbreiteten Meinung, bedeutet selbstorganisiert nicht, dass jeder macht was er will. Selbstorganisation basiert auf einer klaren Verteilung von Rollen und Verantwortlichkeiten. Der Vergleich mit einem Organismus wird hier oft genutzt, weil er eingängig und hilfreich ist: Selbstorganisierte Teams funktionieren dann, wenn jede Zelle weiss, was seine Aufgabe ist und diese selbstverantwortlich umsetzen kann, ohne dass bürokratische Prozesse das Handeln unnötig verlangsamen.

Das Gesetz des Netzwerks

Ein agiles Team macht allerdings noch keine agile Organisationen. Und viele Beispiele in der Praxis zeigen: wenn Agilität nicht ganzheitlich gedacht und organisationsweit skaliert wird, dann bleibt die Wirkung marginal. Die größte Herausforderung für Unternehmen ist es deshalb, aus den einzelnen agilen Einheiten eine agile Organisation zu formen. Wie Denning (2018) oder auch McChrystal (2015) zeigen, gelingt dies durch die Etablierung einer netzwerkartigen Struktur, bei der die Hierarchie aufgebrochen wird und selbstorganisierte Teams parallel zueinander stehen und dabei eng verknüpft sind. Soziokratie 3.0 (Bockelbrink et al. 2017), Holocracy (Robertson 2016) oder andere Kreisorganisationen (Oestereich und Schröder 2017) sind beispielhafte Konzepte, wie ein solches Netzwerk strukturiert werden könnte. Der gemeinsame Nenner ist überall, dass sich die bisher als allgemeingültig verstandene hierarchische Pyramide in ein Netzwerk transformiert, das aus verschiedenen, selbstorganisierten Teams besteht. Die traditionelle Machtstruktur wird aufgelöst und die Organisation wird einem Organismus gleich, der aus verschiedenen, kleineren Organismen bestehen. Oder anders: Das Netzwerk ist ein Team aus Teams. Traditionelle Hierarchien werden durch Kompetenz- und Leistungsdifferenzierung abgelöst.

Ein radikaler Wandel, der zum Umdenken zwingt

Insbesondere das Gesetz des Netzwerks ist ein radikaler Wandel dazu, wie Organisationen heute aufgebaut sind. Dies ist wohl auch der Hauptgrund, warum es bis heute so wenigen Unternehmen gelingt, sich in eine „echte“ agile Organisation zu transformieren. Der Wandel von der klassischen Hierarchie zu einem selbstorganisierten Netzwerk funktioniert nämlich nur, wenn das Topmanagement bereit ist, ihre durch die Hierarchie verliehene Macht aufzugeben. Verständlicherweise macht das kaum eine Führungsperson freiwillig. Dieser nachvollziehbare Opportunismus wird dann von Entscheidungsträgern oft zweckrationalisiert, indem von der Notwendigkeit eines CEO gesprochen wird. Von einem Leader, der die Richtung weist.

Diese heroischen Vorstellung von Führungspersonen, die als Einzelperson komplexe Organisationen verändern können, wird in Wissenschaft und Praxis intensiv kritisiert (Rüegg-Stürm und Grand 2014). Während in der klassischen Betriebswirtschaft noch immer gelehrt und gemeint wird, Organisationen sind steuerbar, wird mit dem Konzept des Netzwerks evident, dass es sich hier um ein zu komplexes Gebilde handelt, um Top-Down getrieben werden zu können. Dies Vorstellung macht vor allem Managern Angst, die gerne die Vorstellung behalten möchten, ihre Entscheidung werde Gesetz. In Netzwerken ist dieser unilaterale Wirkungsversuch von oben nach unten nicht mehr vorgesehen. Dafür sind diese Organismen so radikal auf den Kunden ausgerichtet, dass sie um ein vielfaches agiler sind als klassische Unternehmen, bei denen Führungsteams bemüht versuchen, Entscheidungen in organisationale Realitäten zu verwandeln.
Gestaltungsdimensionen helfen bei der Ausgestaltung als Inspiration

Diese drei Gesetze von Denning (2018) stellen die essenziellen Kriterien einer agilen Organisation dar. Die von mir bereits im Ursprungsmodell (Krapf, 2017) skizzierten Dimensionen und die darin erwähnten Konzepte helfen anschliessend als Inspiration zur konkreteren, organisationsspezifischen Ausgestaltung. Die Idee ist dabei nicht, dass alle genannten Ansätze bzw. Aspekte in den einzelnen Dimensionen des Modells umgesetzt werden müssen,  um agil zu sein. Zwar sollten alle drei Dimensionen (Struktur & Governance, Werte & Kompetenzen, Arbeitsweisen & Methoden) adressiert werden, um eine organisationsweite Agilität zu fördern. Allerdings zeigen Beispiele von anderen Unternehmen, dass es wenig erfolgsversprechend ist, eine Theorie oder eine Lösung ohne Anpassung direkt zu übernehmen. Aus diesem Grund sollten die genannten Ansätze bzw. Aspekte lediglich als Inspiration dienen, um eine organisationsspezifische Lösung auszuarbeiten.

Agile Kultur ist nicht ein Stellhebel sondern ein Produkt

Speziell zu erwähnen ist meiner Meinung nach die Dimension der Kultur. Oft wird Kultur nämlich als Stellhebel (miss-)verstanden, der analog zur Strategie oder Struktur eines Unternehmens (beliebig) verändert werden kann. Nachdem ich mich im Rahmen meiner Dissertation intensiv mit Kultur und Kulturentwicklung auseinandergesetzt habe, bin ich überzeugt, dass Kultur vielmehr ein Produkt der anderen drei Dimensionen ist und nicht parallel zu diesen stehen kann. Dabei definiere ich Kultur verkürzt als „how we do things around here“. Diese kollektiven Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster sind ein (komplexes) Ergebnis davon, wie die anderen Gestaltungsdimensionen ausgestalten werden. Agile Kultur ist somit ein Ziel, dass durch unterschiedliche Massnahmen auf verschiedenen Ebenen zu erreichen versucht werden kann.

 

Literaturverzeichnis

Bockelbrink, B., David, L. & Priest, J. (2017). Sociocracy 3.0. http://​sociocracy30.org​/​guide/​. Zugegriffen 07.04.2018.

Denning, S. (2018). The Age of Agile. How Smart Companies Are Transforming the Way Work Gets Done. New York: Amacon.

Krapf, J. (2017). Agilität als Antwort auf die Digitale Transformation. Synergie – Fachmagazin für Digitalisierung in der Lehre (3), 32–33.

McChrystal, S. (2015). Team of Teams. New Rules of Engagement for a Complex World. London: Penguin UK.

Oestereich, B. & Schröder, C. (2017). Das kollegial geführte Unternehmen. Ideen und Praktiken für die agile Organisation von morgen (1st ed.). München: Vahlen.

Robertson, B. J. (2016). Holacracy. The revolutionary management system that abolishes hierarchy (Penguin business).

Rüegg-Stürm, J. & Grand, S. (2014). Das St.Galler Management-Modell. 4. Generation – Einführung. Bern: Haupt.

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