Empirische Erfahrungen zur Lernkulturentwicklung

In meinem Beitrag vom 9. Oktober 2016 bin ich vertieft darauf eingegangen, was Lernkultur ist und wie diese mit dem normativen Zielbild einer lernenden bzw. agilen Organisation zusammenhängt.  Wie die damals illustrierte Grafik aufzeigte (vgl. Abb. 1), lässt sich die lernende Organisation als präskriptive Lernkultur verstehen. Daraus entstand dann zum Abschluss des erwähnten Beitrags die Frage, wie sich eine solche normative Lernkultur erfassen lässt, um anschliessend Massnahmen zur (Weiter-) Entwicklung einer lernenden bzw. agilen Organisation abzuleiten. Vorliegender Beitrag soll nun daran anschliessen, indem die theoretische Konzeption anhand von empirischen Erfahrungen reflektiert wird.

abb1Abbildung 1: Deskriptive Lernkultur vs. präskriptive Lernkultur (eigene Darstellung)


Einsatz von qualitativen und quantitativen Methoden zur Lernkulturerfassung
Im Paradigma des dynamischen Kulturansatzes erfolgt Kulturentwicklung auf Basis einer verstehenden Beschreibung. Aus diesem Grunde wurde versucht, einerseits die Lernkultur der untersuchten Gruppe zu verstehen (deskriptive Lernkultur), andererseits aber auch ein normativer Rahmen vorzugeben, der einer lernenden Organisation entspricht (präskriptive Lernkultur). Zur Erfassung der sowohl präskriptiven als auch deskriptiven Lernkultur wurde eine Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden eingesetzt.
Die qualitative Erfassung der Lernkultur erfolgte mit Interviews, Gruppendiskussionen, Dokumentenanalyse sowie (teilnehmende und stille) Beobachtung. Um die Inhalte zu strukturieren und in einem gewissen Rahmen mit anderen Gruppen vergleichbar zu machen, wurde das von Sackmann (1991) abgeleitete deskriptive Lernkulturkonstrukt (Krapf 2016) verwendet (vgl. Anwendungsbeispiel in Abb. 2). Als Ergebnis entstand ein gruppenspezifisches und doch vergleichbares Verständnis einer deskriptiven Lernkultur.

abb2Abbildung 2: Beispiel einer deskriptiven Lernkulturerfassung (eigene Darstellung)

Ergänzend zur qualitativen Erfassung wurde ein Fragebogen eingesetzt, der die Ausprägung eines normativen Zielbildes einer lernenden Organisation misst. Hierfür wurden die Instrumente von Seufert/Hasanbegovic/Euler (2007), Sonntag/Stegmaier (2008), Friebe (2005), Pedler/Burgoyne/Boydell (1994) sowie Watkins/Marsick (1999) geprüft. In einer ersten Erhebung wurde die scil-Lernkulturanalyse von Seufert/Hasanbegovic/Euler (2007) eingesetzt, da dieser Fragebogen im untersuchten Unternehmen bereits einmal zur Anwendung kam und somit Vergleichsdaten vorhanden waren. Die Reflexion der ersten Erhebung zeigte anschliessend allerdings deutlich, dass die scil-Lernkulturanalyse einen (zu) starken Fokus auf die strukturellen Rahmenbedingungen des Lernens legt und so die normative Vorstellung einer lernenden bzw. agilen Organisation nicht ausreichend erfassen kann. Während dem scil-Fragebogen zwar hohe Zweckmässigkeit für die (operative) Arbeit des betrieblichen Bildungsmanagements attestiert wurde, scheint das Instrument weniger geeignet, um die Ausprägung einer lernenden Organisation zu messen. In der Folge wurde deshalb der DLOQ-Fragebogen von Watkins/Marsick (1999) verwendet. Die Autoren dieses Instruments haben ihren Fragebogen explizit dafür entwickelt, die Lernkultur einer lernenden Organisation zu erfassen (Marsick/Watkins 2003, S. 133ff.). Für den DLOQ-Fragebogen spricht jedoch nicht nur, dass er den vorliegenden Einsatzzweck abdeckte, sondern ebenfalls seine mehrfache empirische Validierung (vgl. u.a. Leufven u.a. 2015, S. 2; Song/Joo/Chermack 2009, S. 43; Yang/Watkins/Marsick, Victoria J 2004, 51;) und seine theoretische Fundierung auf tradierten Konzepten zur lernenden Organisation wie jenen von Senge (1994) oder Pedler/Burgoyne/Boydell (1994; 1996). Auch im Einsatz bei den untersuchten Gruppen zeigte sich, dass der DLOQ-Fragebogen eine sinnvolle Ergänzung zum deskriptiven Bild darstellt. So kann dieses präskriptive Instrument die Ausprägung von sieben Lernkultur-Dimensionen auf einer Skala von 1 (überhaupt nicht zutreffend) bis 6 (völlig zutreffend) aufzeigen (vgl. Beispiel in Abb. 3) und so einen Hinweis darauf geben, wie stark das normative Zielbild  der lernenden Organisation bereits erreicht ist. Bei der Erhebung des IST-Bildes zeigte es sich zudem zweckmässig die gruppenspezifischen SOLL-Ausprägungen zu erheben, da sich diese nach Dimension doch stark differenzierten (vgl. Beispiel in Abb. 4)

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Abbildung 3: Beispiel einer präskriptiven Lernkulturerfassung (eigene Darstellung in Anlehnung an Watkins/Marsick)

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Abbildung 4: Beispiel der SOLL-Ausprägungen zur präskriptiven Lernkultur


Konsolidierung der Ergebnisse zu einem prägnanten IST-Bild
Anschliessend wurden die Ergebnisse der qualitativen sowie der quantitativen Lernkulturerfassung konsolidiert, um einen prägnanten Überblick zur Lernkultur der untersuchten Gruppe zu haben. Hierfür zeigte es sich zielführend, jeweils mit einer Metapher zu arbeiten, um mit dieser einprägsam die gruppenspezifische Lernkultur zu skizzieren (vgl. Beispiel in Abb. 5)

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Abbildung 5: Beispiel eines IST-Bildes zur Lernkultur (eigene Darstellung)

Ableitung der Handlungsfelder aus dem bestehenden IST-Bild
Ausgehend vom IST-Bild zur Lernkultur sollten anschliessend Massnahmen abgeleitet werden, um dem Ziel der lernenden Organisation näher zu kommen. Initial wurde die Idee verfolgt, mit der untersuchten Gruppe gemeinsam ein SOLL-Bild zu zeichnen, um so Diskrepanzen zwischen IST- und SOLL-Bild zu finden und diese als Handlungsfelder zu determinieren. Die Entwicklung eines völlig neuen SOLL-Bildes zeigte sich jedoch als schwierig, weil das IST-Bildes zu prägend und der Zeitaufwand für das Zeichnen eines konzisen, sozial geteilten SOLL-Bildes analog des IST-Bildes nicht vertretbar war. Wirksamer war es schliesslich, vom bestehenden IST-Bild auszugehen und daraus dann Handlungsfelder abzuleiten, die für die Lernkulturentwicklung fokussiert werden sollen. Die Empirie bestätigt in diesem Falle die Empfehlung von Marsick/Watkins (1999, S. 17), Kulturentwicklung wie ein Bildhauer zu betreiben: An einem gegebenen Gegenstand kontinuierlich jene Dinge anpassen, die es anzupassen gilt – bis das erwünschte Ergebnis erreicht ist.

In der vorliegenden empirischen Untersuchung wurde zuerst in der Gruppe eine Vielzahl von Handlungsfelder erarbeitet bzw. gesammelt. Anschliessend wurden die zahlreichen Handlungsvorschläge nach Relevanz priorisiert, um so rund fünf Handlungsfelder zu definieren, die in der Folge für einen konkreten Massnahmenplan fokussiert werden sollen. Eine Möglichkeit, die Vielzahl an Handlungsvorschläge zu priorisieren stellt die „Impact Matrix“ dar. Hierbei werden die Handlungsfelder in den Dimensionen „Dringlichkeit“ und „Wirksamkeit“ bewertet und anschliessend selektiert (vgl. Beispiel nach der Selektion in Abb. 6)

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Abbildung 6: Priorisierung der Handlungsfelder in einer „Impact Matrix“ (eigene Darstellung)


Fazit
Aus der Empirie konnte bisher gelernt werden, dass die Entwicklung zur Lernkultur als ein wirksamer Stellhebel zur lernenden bzw. agilen Organisation angesehen wird. Dabei zeigte sich die Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden bei der Lernkulturerfassung als zweckmässig, weil so auf die spezifische Lernkultur der Gruppe eingegangen werden konnte, ohne das präskriptive Zielbild der lernenden Organisation aus den Augen zu verlieren. Bei der Ableitung von Massnahmen aus dem IST-Bild schien es weniger zielführend, ein völlig neues SOLL-Bild zu zeichnen. Vielmehr wurden direkt aus dem IST-Bild Handlungsfelder abgeleitet, die für konkrete Massnahmen vertieft werden sollen. Diese Vertiefung stellt der nächste Schritt in der Lernkulturentwicklung als Befähigungsvehikel zur agilen Organisation dar und soll in einem späteren Eintrag genauer erläutert werden.

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Literatur

Friebe, J. (2005): Merkmale unternehmensbezogener Lernkulturen und ihr Einfluss auf die Kompetenzen der Mitarbeiter. Dissertation, Ruprecht-Karls-Universität. Heidelberg.

Krapf, J. (2016): Was ist Lernkultur und warum? https://joel-krapf.com/2016/10/09/was-ist-lernkultur-und-warum/.

Leufven, M./Vitrakoti, R./Bergstrom, A./Ashish, K. C./Malqvist, M. (2015): Dimensions of Learning Organizations Questionnaire (DLOQ) in a low-resource health care setting in Nepal. In: Health research policy and systems 13, S. 6.

Marsick, Victoria J/Watkins, K. E. (1999): Facilitating learning organizations. Making learning count. Aldershot, Hampshire, England, Brookfield, Vt., USA: Gower.

Marsick, Victoria J/Watkins, K. E. (2003): Demonstrating the Value of an Organization’s Learning Culture. The Dimensions of the Learning Organization Questionnaire. In: Advances in Developing Human Resources 5, H. 2, S. 132–151.

Pedler, M./Boydell, T./Burgoyne, J. (1996): Auf dem Weg zum „Lernenden Unternehmen“. In: Sattelberger, T. (Hrsg.): Die lernende Organisation. Konzepte für eine neue Qualität der Unternehmensentwicklung. Wiesbaden: Gabler Verlag, S. 57–66.

Pedler, M./Burgoyne, J./Boydell, T. (1994): Das lernende Unternehmen. Potentiale freilegen, Wettbewerbsvorteile sichern. Frankfurt am Main: Campus.

Sackmann, S. (1991): Cultural knowledge in organizations. Exploring the collective mind. Newbury Park, Calif: Sage.

Senge, P. M. (11994): The Fifth Discipline. The Art & Practice of the Learning Organization. New York, NY: Currency Doubleday.

Seufert, S./Hasanbegovic, J./Euler, D. (2007): Mehrwert für das Bildungsmanagement durch nachhaltige Lernkulturen. St. Gallen: Institut für Wirtschaftspädagogik.

Song, J. H./Joo, B.-K./Chermack, T. J. (2009): The Dimensions of Learning Organization Questionnaire (DLOQ). A validation study in a Korean context. In: Human Resource Development Quarterly 20, H. 1, S. 43–64.

Sonntag, K./Stegmaier, R. (2008): Das Lernkulturinventar (LKI) – Ermittlung von Lernkulturen in Wirtschaft und Verwaltung. In: Fisch, R./Müller, A./Beck, D. (Hrsg.): Veränderungen in Organisationen. Stand und Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 227–248.

Watkins, K. E./Marsick, Victoria J (1999): Dimensions of the learning organization questionnaire. Introduction. http://www.partnersforlearning.com/instructions.html. 28. November 2016.

Yang, B./Watkins, K. E./Marsick, Victoria J (2004): The construct of the learning organization: Dimensions, measurement, and validation. In: Human Resource Development Quarterly 15, H. 1, 31-55.

2 Kommentare zu „Empirische Erfahrungen zur Lernkulturentwicklung

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